Gut Ding will Weile haben

Reportage / Migros-Magazin

Zu Wasser, am Sessellift, beim Teezubereiten: Es gibt sie noch, die Menschen, die bewusst Tempo aus ihrem Leben nehmen. 

Ruhe. Ein rarer Zustand. Auf dem Handy blinken ständig die neusten Nachrichten auf, vor dem Einschlafen ein letzter Blick auf das Facebook-Profil. Doch es gibt noch Orte, an denen das digitale Rauschen im Hintergrund bleibt, wo die Zeit langsamer zu vergehen scheint. Bei Toni Zgraggen (46) und Marcel Aschwanden (42) zum Beispiel. Auf ihrem Lastschiff «Uristier» kommt selten Hektik auf. Auch Kurt Mathis (60) mag es gemütlich. Wer mit seinem Sesselift auf den Haldigrat fahren will, braucht eine Engelsgeduld. Und die japanische Teemeisterin Soyu Mukai (56) nimmt sich viel Zeit, um einen Matcha-Grüntee zuzubereiten. Sie alle geben sich der Langsamkeit hin. Und wirken dabei äusserst zufrieden.

Das Lastschiff: der gemütliche Koloss

Mit gemächlichen 15 Kilometern pro Stunde pflügt das knapp 900 Tonnen schwere Lastschiff «Uristier» an diesem Morgen durch den dunklen Vierwaldstättersee. Am Horizont hat sich der Nebel langsam aufgelöst. Und doch hängt er noch wie ein Schleier vom Himmel. Links und rechts des Schiffs ziehen schroffe Felswände wie in Zeitlupe vorbei. Draussen ist es bitterkalt, drinnen im beheizten Führerhaus von Toni Zgraggen jedoch wohlig warm.

Zgraggen, 46 Jahre alt, ist Schiffsführer des «Uristiers». Mit der linken Hand steuert er das träge Schiff, mit der rechten kann er es beschleunigen oder drosseln. Den heutigen Kurs hat Zgraggen in ein GPS eingegeben: Flüelen–Küssnacht. Ein Monitor zeigt Zgraggen an, ob er auf Kurs ist. Weicht das Schiff zu sehr ab, ertönt ein Alarm. Zgraggen schaut aus seinem Führerhaus nach vorne zum Horizont und nippt am Kaffee. Er blickt auf den 40 Meter langen Bug des Schiffs. Auf ihm sind drei Haufen aufgetürmt: Kies und Sand. 500 Tonnen ist die Ladung heute schwer. Diese ist in Brunnen aufgeladen worden und soll nun in Küssnacht auf Lastwagen abgeladen werden.

Lastschiff Uristier

Der Uristier pflügt sich durch den Vierwaldstättersee. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler.

Jobwechsel vom Bau aufs Schiff

Zwei Stunden braucht das Schiff für die Strecke Flüelen–Küssnacht. Schnell ist das nicht. «Das ist schon eine beruhigende Arbeit», sagt Zgraggen, der 18 Jahre auf dem Bau gearbeitet hatte, bevor er sich entschloss, für die Firma Arnold & Co. AG auf einem Schiff anzuheuern. «Ich wohne am Seeufer in Flüelen. Ich habe die Lastschiffe immer gesehen und gedacht, dort drauf könnte es noch interessant sein.»
Den Entscheid hat er bis heute nicht bereut. Der Stress sei viel geringer als auf dem Bau. Aber auch auf dem Schiff könne es hektisch werden. Wenn im Sommer viele Kursschiffe, Segler und sonstige Bootsfahrer auf dem See unterwegs sind, müsse man äusserst konzentriert sein. «Die Kursschiffe haben immer Vortritt. Und die Surfer siehst du manchmal fast nicht», sagt Zgraggen. Die Tage auf dem Schiff können zudem ziemlich lang sein. Die Schicht beginne meistens um 5 Uhr und sei an manchen Tagen erst nach zwölf Stunden zu Ende. «Nach fünf Tagen spürst du das. Du bist müde.»

Fahrt mit dem Lastschiff "Uristier" am 29.01.2015 auf dem Vierwaldstättersee.

900 Tonnen ist das Lastschiff schwer. Seine Ladung: Kies. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler.

Neben Zgraggen ist auch der 42-jährige Marcel Aschwanden auf dem Lastschiff. Zgraggen und er wechseln sich beim Steuern des Schiffs ab. Aschwanden arbeitete bereits bei der Schifffahrtsgesellschaft Vierwaldstättersee (SGV) als Schiffsführer und ist heute mit Leib und Seele Seemann. «Hier draussen in der Natur zu sein, hat auch was Romantisches.» So sei das Schiff nicht einfach nur ein Arbeitsplatz, sondern auch ein Daheim. «Wenn du am Morgen die Sonne aufgehen siehst und der Tag auf dem See langsam erwacht, dann ist das einfach schön.»

Fahrt mit dem Lastschiff "Uristier" am 29.01.2015 auf dem Vierwaldstättersee. Schiffführer Marcel Aschwanden.

Schiffführer Marcel Aschwanden. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler.

Als der «Uristier» in den Küssnachter Hafen einfährt, stehen schon die ersten Lastwagen bereit für die Fracht. Vorsichtig legt Aschwanden an, Zgraggen bedient das Förderband, auf dem die Tonnen Kies mit einem lauten Grollen in die Lastwagen befördert werden. Nach einer Stunde sind Kies und Sand abgeladen. Das Lastschiff sticht wieder in den Vierwaldstättersee. Gemütlich, mit 15 Kilometern pro Stunde.

Fahrt mit dem Lastschiff "Uristier" am 29.01.2015 auf dem Vierwaldstättersee. Schiffführer Toni Zgraggen.

Schiffführer Toni Zgraggen. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler.

Ein Grüntee zur inneren Zufriedenheit

Ein Tee braucht Zeit. Er benötigt Ruhe. Einen Tee kann man nicht husch, husch zubereiten. Sonst wird er geschmacklos. So kann ein Tee eine genussvolle Mini-Meditations-Einheit im Alltag sein. Wenn die Japanerin Soyu Mukai einen Tee zubereitet, dann wird aus dieser Mini-Meditations-Einheit eine aufwendig und bis ins kleinste Detail akkurat durchgeführte Zeremonie. Mukai ist eine japanische Teemeisterin. Sie hat durch ein 17 Jahre dauerndes Studium gelernt, wie mit einer Teezeremonie, einem sogenannten Chado, eine Schale Matcha-Grüntee exakt gebrüht wird. So, dass im Zubereitungsraum eine besinnliche und konzentrierte Atmosphäre entsteht.

Die Gäste haben in einem traditionellen, japanischen Teeraum in der Remise des Museums Rietberg in Zürich Platz genommen. Tatami-Matten bedecken den Boden, der Raum ist durch Papierschiebetüren abgetrennt. In der Mitte des Zimmers steht in einer Versenkung ein schwerer Kessel aus Gusseisen auf glühender Holzkohle. Als Begrüssungsgeschenk hat Mukai eine kleine Süssigkeit parat. Nun kniet sie neben dem Topf nieder.

Teezeremonie mit Soyu Mukai / Teemeisterin, Urasenke Prof. Grad, am 28.01.2015 im Mueum Rietberg in Zürich.

Teemeisterin Soyu Mukai bei der Teezeremonie im Museum Rietberg in Zürich. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler.

Sie trägt einen traditionellen Kimono. Jedender Schritte hat Mukai Tausende Male geübt. Sie legt die Gegenstände für die Teezubereitung vor sich hin: Eine Schale, ein rotes Tuch aus Seide, eine hölzerne Schöpfkelle, einen Holzlöffel, einen hölzernen Teeschwingbesen und eine Schale, die das Matcha-Grünteepulver enthält. Mukai verwendet für die Zeremonie ein kostbares Teepulver, das im heiligen Iwashimizu-Hachiman-gū-Schrein in Kyoto geerntet wurde.

Die Teezubereitung lehrt einen Achtsamkeit

Zuerst reinigt Mukai alle Gegenstände noch einmal symbolisch. Dann fügt sie zwei gehäufte Löffel des blattgrünen Macha-Pulvers in die Teeschale. Mit der Holzkelle giesst sie vorsichtig Wasser hinzu. Mit kleinen Kreisen vermischt sie mit dem Teeschwingbesen das Pulver und das Wasser. Sie dreht die Schüssel zweimal im Uhrzeigersinn und stellt sie vor sich hin. Der Tee ist nun für den Gast bereit.

Teezeremonie mit Soyu Mukai / Teemeisterin, Urasenke Prof. Grad, am 28.01.2015 im Mueum Rietberg in Zürich.

Soyu Mukai entnimmt Wasser für den Tee. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler.

Das alles klingt simpel. Und doch dauert es 15 Minuten, bis eine Tasse zubereitet ist, weil Mukai sich jeder einzelnen Bewegung mit voller Konzentration hingibt. «Die Form der Zubereitung ist ein Ausdruck der Achtsamkeit und Gastfreundschaft, die auf der Zen-Philosophie basieren.» Mit Achtsamkeit meint die Teemeisterin, dass allen Handlungen, die man tut, die volle Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. «Die heutige Zeit ist schnelllebig. Die Achtsamkeit geht verloren. Das führt dazu, dass sich die Menschen zunehmend beziehungslos fühlen.» Mit der Zubereitung könne Achtsamkeit geschult werden – auch wenn man keine Teemeisterin sei. «Ich bereite für mich ab und zu einen Beuteltee zu. Für den nehme ich mir ebenfalls genügend Zeit. Selbst dieser einfache Tee kann mit den Sinnen bewusst wahrgenommen werden.» Wer das mache, finde innere Ruhe und Zufriedenheit. Denn, so steht es auf der Schriftrolle, die in der Nische hängt: «Wo Harmonie herrscht, entsteht unendliches Glück.»

Teezeremonie mit Soyu Mukai / Teemeisterin, Urasenke Prof. Grad, am 28.01.2015 im Mueum Rietberg in Zürich.

Zwei gehäufte Löffel des blattgrünen Matcha-Pulver löst Soyu Mukai in heissem Wasser auf. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler.

Slow-Ski: Entschleunigter Wintersport

Wer sich mit dem Sessellift Haldigrat auf 1937 Meter auf den Berg hinauf transportieren lassen will, braucht Geduld. Es herrscht perfektes Wintersportwetter an diesem Samstag: blauer Himmel, Pulverschnee. Etwa 50 Snowboarder und Skifahrer stehen an der Talstation oberhalb von Wolfenschiessen NW an.

Nur, wo bitte sind denn die Sessel? Anders als bei grossen Skigebieten, bei denen die Schneesportler im Sekundentakt auf die Bergspitze befördert werden, geht es auf dem Haldigrat deutlich gemütlicher zu. «Keine Sorge, die Sessel kommen schon noch», sagt ein Einheimischer. Tatsächlich, nach ein paar Minuten fahren ganze drei Sessel und eine Transportbox vom Hang hinunter ins Tal. Nur gerade acht Personen finden darauf Platz. Insgesamt 55 Personen kann der Sessellift pro Stunde transportieren. So müssen die Schneesportler für eine zehnminütige Abfahrt meist gut eine Stunde anstehen. Entschleunigter Wintersport, sozusagen. Das nehmen aber alle gern in Kauf. Das Haldigrat ist insbesondere bei den Freeridern beliebt. Hier gibt es keine präparierten Pisten, und jeder fährt auf eigenes Risiko.

Der Sessellift Haldigrat am 31.01.2015. Kurt Mathis der Inhaber und Betreiber.

Kurt Mathis, Inhaber und Betreiber des Sessellifts Haldigrat. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler.

Keine Ferien mehr wegen des Sessellifts

Oben auf dem Berg angekommen, wird jeder einzelne Fahrgast mit Vornamen von Hand in ein Büchlein eingetragen. 20 Franken kosten zwei Fahrten mit dem Lift. Ein Geschäft, das sich für den Betreiber Kurt Mathis offenbar lohnt. Mathis hat den Sessellift zusammen mit dem dazugehörigen Berggasthaus im Jahr 2001 spontan gekauft. Seither ist er Besitzer und Betreiber. Aus dem Kaufpreis macht Mathis ein Geheimnis. Er sagt mit einem Lächeln: «Ich habe zwischen einem und einer Millionen Franken bezahlt. Seither schreibe ich aber schwarze Zahlen.»

Wegen des Geldes allein hat Mathis, ein kerniger Nidwaldner mit Rundbrille und Bart im Gesicht sowie Jägerhut mit Feder auf dem Kopf, den Lift sowieso nicht übernommen. Mathis ist Mitinhaber eines Gipsergeschäfts. Den Sessellift betreibt er nebenbei. Seine Frau kümmert sich um das Berggasthaus, wo man auch übernachten kann.

Der Sessellift Haldigrat am 31.01.2015. Kurt Mathis der Inhaber und Betreiber.

Jäger Kurt Mathis beobachtet das Wild mit seinem Feldstecher. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler.

So viel wie an diesem Wochenende sei sonst auf dem Haldigrat selten los. Ist der Betrieb im Winter ausnahmsweise mal unter der Woche offen, muss man an der Talstation des Sessellifts Mathis extra anrufen. Der setzt dann den Sessellift in Gang. Mathis mag die Ruhe und Abgeschiedenheit auf dem Haldigrat. «Ich könnte mir sofort vorstellen, hier zu leben», sagt er. «Jede Jahreszeit ist hier oben schön.»
So geniesst er es in der Früh, mit dem Feldstecher Adler, Hirsche und Gämse zu beobachten. Auf Letztere macht er als Hochwildjäger gerne Jagd. «Ohne die Jagd wäre ich nie 60 Jahre alt geworden. Sie hält mich fit.» Trotzdem befürchtet er, dass auch mit diesem Hobby bald Schluss ist. «Ferien habe ich schon lange nicht mehr gemacht», sagt Mathis. Zu viel gebe der Lift zu tun. Dennoch hat Mathis das nächste Projekt parat. Er möchte eine Bike-Strecke vom Haldigrat bis ins Tal bauen. Von der rasanten Abfahrt können sich die Biker beim Warten auf die Sessel des Haldigrat-Lifts wieder erholen.

Der Sessellift Haldigrat am 31.01.2015. Kurt Mathis der Inhaber und Betreiber.

Zwei Fahrten mit dem Sessellift kosten 20 Franken. (c) Migros-Magazin, Daniel Winkler (inkl. Titelbild).

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